Auf dem Boden der großen Kirche in Taizé – während des Gottesdienstes – hatte ich eine Vision.
Es war eine Vision der Kirche Christi, und ich fühlte sie mehr als ich sie sah. Plötzlich war ich überwältigt und aufgehoben und mitfortgenommen durch eine Hingabe – eine Hingabe an IHN: Christus.
Doch war er es nicht allein, der vor meinem inneren Auge stand. Da war auch die Kirche als sein Leib, die Vielzahl der Glieder an diesem Leib, der ich mich mit ganz neuer Hingabe zugewandt fühlte.
Mein Denken und Empfinden war wie entkrampft, befreit von allen Gedanken und Hemmungen, die sonst mein inneres Verhältnis zur Kirche umklammert hielten.
Mich überschwemmte die Freude, mich erfüllte ein innerer Jubel über die große Vielfalt wirklichen Glaubens und wahrer herzlicher Anbetung, wie sie in der ganzen Kirche über die Erde hin gelebt wird: in Millionen von Herzen, in unzähligen Versammlungen, Kreisen und Gruppen, im großen Konzert der Sprachen.
Wie soll ich’s beschreiben? Alles war wie von einem Licht durchflutet. Und alles war ganz einfach.
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Denn Christus war da inmitten seiner Gläubigen: Da wurde das Zueinander ganz einfach, das Miteinander gewann die Richtung auf IHN, von dem eine überwältigend befreiende einigende Kraft ausging.
Was uns untereinander trennte – das Erbe der Geschichte, aus dem wir jeweils leben, das eigene Bekenntnis, das es zu verfechten gilt, der eigene Glaube, den man erringen und vertreten muss,
– dies alles schien kompliziert, in der Gegenwart Christi nicht gefragt, und von der Kraft der Liebe und der Einheit überwunden.
Was aber zutiefst überraschte, war dies:
Nichts zwang mich, mich selbst zu verleugnen, eine Tradition abzubrechen, oder zu verachten, was mich bisher erfüllte, – nichts zwang mich dazu.
Vielmehr war da ein ganz neues Vermögen: vor dem Angesicht Christi das Trennende zu lassen und das Eigene als Gabe in die Kirche hinein zu schenken, auf dass Christus in ihr als Reichtum aufleuchte in der Welt.
Hans-Diether Reimer (1991)
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